Boykott Katar? (20994)

"Halt's Maul, Deut­sch­land", hat Kri­s­tof Schreuf ge­sagt. Nein, hat er na­tür­lich nicht, aber das stand auf dem T-Shirt, das man bei Kon­zer­ten sei­ner ers­ten Band Ko­los­sa­le Ju­gend kau­fen konn­te. Mein Bru­der hatte eines und ich war mehr als nei­disch. "Halt's Maul, Deut­sch­land" bzw. "Hal­tet ein­fach alle das Maul (oder denkt zu­min­dest mal nach, bevor ihr es auf macht)", denkt es ge­ra­de in mir, wenn ich mir die all das Ge­we­se rund um die WM in Katar an­se­he. Wenn selbst das Hetz- und Schmier­blatt BILD auf ein­mal seine Liebe zur schwu­len, les­bi­schen, bi­se­xu­el­len und quee­ren Liebe ent­deckt, geht mensch als Mensch mit Ver­stand bes­ser vom Platz. Und all die, die jetzt ganz hel­den­haft vom Sofa aus die WM boy­kot­tie­ren (Wie macht man das ei­gent­lich? Schaut man dann 2 Stun­den auf das schwa­r­ze Dis­play vom häus­li­chen Flach­bild­sch­eiss?), soll­ten sich mal fra­gen, was sie sonst so ma­chen in Sa­chen Fuß­ball im Spe­zi­el­len und Welt im All­ge­mei­nen. Wer hat den zum Bei­spiel laut "nein" ge­sagt, als der deut­sche Wirt­schafts­mi­nis­ter Ha­beck An­fang die­sen Jah­res der ka­ta­ri­schen Herr­schen-Cli­que seine Auf­war­tung mach­te und mit tie­fen Bü­ck­ling ver­such­te Gas für "unser Deut­sch­land" ein­zu­kau­fen? Wer von denen, die JETZT auf ein­mal fest­stel­len, dass ho­mo­se­xu­el­le Liebe in Katar ver­bo­ten ist, macht denn auf dem Platz das Maul auf, wenn ein paar Hools in Hör­wei­te Spie­ler oder Fans der geg­ne­ri­schen Mann­schaft als "schwul" be­schimp­fen? Lie­ber das Maul hal­ten, gell, weil das sind ja eh un­be­lehr­ba­ren Dep­pen und über­haupt wol­len wir ja das Spiel sehen und nicht dis­ku­tie­ren. Wer von all die­sen "Boy­kot­teu­ren" hat sich denn je­mals mit den Ar­beits­be­din­gun­gen der Ar­beits­mi­gran­ten auf den hie­si­gen Bau­stel­len be­schäf­tigt? Dass dort mitt­ler­wei­le unter der Hand längst wie­der die 6-Tage-48-plus-x-Stun­den-Woche Ein­zug ge­hal­ten hat, fällt höchs­tens mal dann auf, wenn man sich vom Bau­stel­len­lärm in der Nach­bar­schaft am Sams­tag beim Gril­len auf dem ei­ge­nen Bal­kon ge­stört fühlt. Dabei war die Woche im Büro schon stres­sig genug und der Ur­laub muss ja auch noch ge­plant wer­den. Und wenn dann eine der no­to­risch dum­men ZEIT-Au­to­rin­nen (ich habe ja den Ver­dacht, dass es sich hier­bei um eine be­son­ders per­fi­de Form von Frau­en­feind­lich­keit han­delt über­wie­gend dumme Frau­en im ei­ge­nen Blatt schrei­ben zu las­sen) sich durch den An­blick des WM-Mas­kott­chens "un­an­ge­nehm be­rührt" wähnt und ein ehe­ma­li­ger Rodel-Welt­meis­ter (ver­mut­lich an­sons­ten ewig­lich CSU-wäh­lend) im brei­tes­ten Bay­risch die "Jungs" auf­for­dert wie­der nach Hause zu kom­men, wird deut­lich, worum es von links-li­be­ral bis stramm-kon­ser­va­tiv wirk­lich geht: Die In­sze­nie­rung der ei­ge­nen mo­ra­li­schen Über­le­gen­heit. Hier wir Guten, dort ihr an­de­ren. Und mit viel Ge­tö­se kann so ins­be­son­de­re das sich so fort­s­chritt­lich wäh­nen­de links-li­be­ra­le Lager den Man­tel des Schwei­gens über ihr all­täg­li­ches Schwei­gen und Mit­ma­chen aus­brei­ten. Man kann so alles mög­li­che be­quem unter den Tisch fal­len las­sen. Zum Bei­spiel, dass Deut­sch­land im in­ter­na­ti­o­na­len Ver­gleich immer noch eines der frau­en­feind­lichs­ten In­dus­tri­e­län­der ist und hie­si­ge Kitas fast aus­nahms­los kin­der­ver­ach­ten­de Auf­be­wah­rungs­an­stal­ten sind. Dass Ab­trei­bun­gen hier immer noch straf­bar sind. Dass trotz ei­ni­ger öf­fent­li­cher Vor­zei­ge­schwu­ler junge ho­mo­se­xu­el­le Män­ner immer noch aus guten (also schlech­ten) Grün­den aus der Pro­vinz in die Groß­stadt flie­hen. Dass es ge­nü­gend Ge­gen­den in die­sem Land gibt, in denen man nachts als Trans-Mensch lie­ber nicht durch die Ge­gend lau­fen soll­te. Dass es ver­mut­lich nicht ein ein­zi­ges Frau­en­haus in die­sem Land gibt, dass nicht Jahr für Jahr um seine Fi­nan­zie­rung ban­gen muss. Diese Auf­zäh­lung ließe sich noch er­heb­lich er­wei­tern!

Die Ka­ta­ris kön­nen einem dabei fast (aber auch nur fast!) schon leid tun. 220 Mil­li­ar­den Euro haben sie in "ihre" WM ge­pumpt (zum Ver­gleich: so­viel kos­tet sum­ma­suma­rum auch das neue ame­ri­ka­ni­sche Mond­fahrt­pro­gramm "Ar­te­mis") und müs­sen nun fest­stel­len, das man sich für alles Geld der Welt weder Freun­de noch An­er­ken­nung kau­fen kann. Es ist fast so wie mit dem di­cken Jun­gen aus rei­chem Haus, den kei­ner lei­den kann, zu des­sen bom­bas­ti­scher Ge­burts­tags­par­ty alle nur kom­men, weil sie von ihren El­tern dahin ge­schickt wur­den.

Vor­schlag zur Güte (als guter Ka­tho­lik finde ich jede Form von Ab­lass­han­del ja super): Schaut's euch die Spie­le an. Und für jedes Tor, das bei einem Spiel fällt, das ihr guckt, spen­det ihr bis zu nächs­ten WM jedes Jahr 20 Euro an eine be­lie­bi­ge Ein­rich­tung in eurer Stadt, die sich um die Opfer pa­tri­a­r­cha­ler Ge­walt di­rekt vor eurer Nase küm­mert. Sei es nun der ört­li­che Frau­en-Not­ruf, das Frau­en­haus, eine Ein­rich­tung wie Wild­was­ser (für Kin­der, die Opfer se­xu­el­ler Ge­walt wer­den) oder eine Ein­rich­tung für Opfer homo-, trans-, und queer­feind­li­cher Ge­walt. Ihr habt die freie Wahl. Nur eine Bitte: Ver­kauft die Tat­sa­che, dass ihr nicht stun­den­lang auf dem Sofa hockt, um Fuß­ball zu gu­cken, nicht als Boy­kott, son­dern hal­tet ein­fach das Maul.

Disclai­mer: Der Autor war als Kind be­geis­ter­ter Fan der Na­ti­o­nal­mann­schaft und hat sich wie Bolle ge­freut als Deut­sch­land 1974 Fuß­ball­welt­meis­ter wurde. Lieb­lings­spie­ler war, ist und wird für immer blei­ben: Berti Vogts.