"Halt's Maul, Deutschland", hat Kristof Schreuf gesagt. Nein, hat er natürlich nicht, aber das stand auf dem T-Shirt, das man bei Konzerten seiner ersten Band Kolossale Jugend kaufen konnte. Mein Bruder hatte eines und ich war mehr als neidisch. "Halt's Maul, Deutschland" bzw. "Haltet einfach alle das Maul (oder denkt zumindest mal nach, bevor ihr es auf macht)", denkt es gerade in mir, wenn ich mir die all das Gewese rund um die WM in Katar ansehe. Wenn selbst das Hetz- und Schmierblatt BILD auf einmal seine Liebe zur schwulen, lesbischen, bisexuellen und queeren Liebe entdeckt, geht mensch als Mensch mit Verstand besser vom Platz. Und all die, die jetzt ganz heldenhaft vom Sofa aus die WM boykottieren (Wie macht man das eigentlich? Schaut man dann 2 Stunden auf das schwarze Display vom häuslichen Flachbildscheiss?), sollten sich mal fragen, was sie sonst so machen in Sachen Fußball im Speziellen und Welt im Allgemeinen. Wer hat den zum Beispiel laut "nein" gesagt, als der deutsche Wirtschaftsminister Habeck Anfang diesen Jahres der katarischen Herrschen-Clique seine Aufwartung machte und mit tiefen Bückling versuchte Gas für "unser Deutschland" einzukaufen? Wer von denen, die JETZT auf einmal feststellen, dass homosexuelle Liebe in Katar verboten ist, macht denn auf dem Platz das Maul auf, wenn ein paar Hools in Hörweite Spieler oder Fans der gegnerischen Mannschaft als "schwul" beschimpfen? Lieber das Maul halten, gell, weil das sind ja eh unbelehrbaren Deppen und überhaupt wollen wir ja das Spiel sehen und nicht diskutieren. Wer von all diesen "Boykotteuren" hat sich denn jemals mit den Arbeitsbedingungen der Arbeitsmigranten auf den hiesigen Baustellen beschäftigt? Dass dort mittlerweile unter der Hand längst wieder die 6-Tage-48-plus-x-Stunden-Woche Einzug gehalten hat, fällt höchstens mal dann auf, wenn man sich vom Baustellenlärm in der Nachbarschaft am Samstag beim Grillen auf dem eigenen Balkon gestört fühlt. Dabei war die Woche im Büro schon stressig genug und der Urlaub muss ja auch noch geplant werden. Und wenn dann eine der notorisch dummen ZEIT-Autorinnen (ich habe ja den Verdacht, dass es sich hierbei um eine besonders perfide Form von Frauenfeindlichkeit handelt überwiegend dumme Frauen im eigenen Blatt schreiben zu lassen) sich durch den Anblick des WM-Maskottchens "unangenehm berührt" wähnt und ein ehemaliger Rodel-Weltmeister (vermutlich ansonsten ewiglich CSU-wählend) im breitesten Bayrisch die "Jungs" auffordert wieder nach Hause zu kommen, wird deutlich, worum es von links-liberal bis stramm-konservativ wirklich geht: Die Inszenierung der eigenen moralischen Überlegenheit. Hier wir Guten, dort ihr anderen. Und mit viel Getöse kann so insbesondere das sich so fortschrittlich wähnende links-liberale Lager den Mantel des Schweigens über ihr alltägliches Schweigen und Mitmachen ausbreiten. Man kann so alles mögliche bequem unter den Tisch fallen lassen. Zum Beispiel, dass Deutschland im internationalen Vergleich immer noch eines der frauenfeindlichsten Industrieländer ist und hiesige Kitas fast ausnahmslos kinderverachtende Aufbewahrungsanstalten sind. Dass Abtreibungen hier immer noch strafbar sind. Dass trotz einiger öffentlicher Vorzeigeschwuler junge homosexuelle Männer immer noch aus guten (also schlechten) Gründen aus der Provinz in die Großstadt fliehen. Dass es genügend Gegenden in diesem Land gibt, in denen man nachts als Trans-Mensch lieber nicht durch die Gegend laufen sollte. Dass es vermutlich nicht ein einziges Frauenhaus in diesem Land gibt, dass nicht Jahr für Jahr um seine Finanzierung bangen muss. Diese Aufzählung ließe sich noch erheblich erweitern!
Die Kataris können einem dabei fast (aber auch nur fast!) schon leid tun. 220 Milliarden Euro haben sie in "ihre" WM gepumpt (zum Vergleich: soviel kostet summasumarum auch das neue amerikanische Mondfahrtprogramm "Artemis") und müssen nun feststellen, das man sich für alles Geld der Welt weder Freunde noch Anerkennung kaufen kann. Es ist fast so wie mit dem dicken Jungen aus reichem Haus, den keiner leiden kann, zu dessen bombastischer Geburtstagsparty alle nur kommen, weil sie von ihren Eltern dahin geschickt wurden.
Vorschlag zur Güte (als guter Katholik finde ich jede Form von Ablasshandel ja super): Schaut's euch die Spiele an. Und für jedes Tor, das bei einem Spiel fällt, das ihr guckt, spendet ihr bis zu nächsten WM jedes Jahr 20 Euro an eine beliebige Einrichtung in eurer Stadt, die sich um die Opfer patriarchaler Gewalt direkt vor eurer Nase kümmert. Sei es nun der örtliche Frauen-Notruf, das Frauenhaus, eine Einrichtung wie Wildwasser (für Kinder, die Opfer sexueller Gewalt werden) oder eine Einrichtung für Opfer homo-, trans-, und queerfeindlicher Gewalt. Ihr habt die freie Wahl. Nur eine Bitte: Verkauft die Tatsache, dass ihr nicht stundenlang auf dem Sofa hockt, um Fußball zu gucken, nicht als Boykott, sondern haltet einfach das Maul.
Disclaimer: Der Autor war als Kind begeisterter Fan der Nationalmannschaft und hat sich wie Bolle gefreut als Deutschland 1974 Fußballweltmeister wurde. Lieblingsspieler war, ist und wird für immer bleiben: Berti Vogts.